Dienstag, 27. Dezember 2011

Mit den Augen eines Adoptivkindes - eine weitere Paradoxie von Adoptionen

Ältere adoptierte Kinder sehen die ethischen Aspekte ihrer Adoption zuweilen erheblich nüchterner als ihre von den mangelnden ethischen Standards der Verfahren geplagten Adoptiveltern. Die Augen fest nach vorne gerichtet vergleichen sie ihr altes mit ihrem neuen Leben und haben ein instiktives Gespür für die Unterschiede der zumeist kindzentrierten Adoptivfamilien mit den Überlebenskämpfen in ihren Herkunftsfamilien.

Nach Angaben von UNICEF müssen 53% der Kinder in Äthiopien im Alter zwischen 5 und 14 Jahre arbeiten. 49% der Mädchen in Äthiopien heiraten vor ihrem 18. Lebensjahr. Unter den ärmsten 20% sind es sogar 61%. 74% aller äthiopischer Frauen sind Opfer von Genitalverstümmelungen geworden.

Das African Child Policy Forum hat 2006 einen Bericht mit dem Titel "Sticks, Stones and Brutal Words: The Violence Against Children in Ethiopia" veröffentlicht, der auf Befragungen von Kindern und Erwachsenen beruht. Danach ist das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in Äthiopien erschreckend:
  • Mehr als 60 Prozent der befragten Erwachsenen gaben an, Kinder mit einem Seil oder Draht festgebunden zu haben und 57 Prozent gaben zu, ein Kind mit der Faust geschlagen zu haben.
  • Mehr als 70 Prozent der Kinder wurden mit einem Stock oder einem anderen Gegenstand geschlagen.
  • 60 Prozent haben selbst Kindesentführungen miterlebt.
  • 62,6 Prozent der Erwachsenen gaben zu, ein Kind gezwungen zu haben, den Rauch einer brennenden Chilischote einzuatmen.
Kinder, die nicht mit ihren Eltern sondern mit ihren Verwandten leben, leiden nach Angaben des Berichts mehr unter der Gewalt von Erwachsenen als andere. Sie müssen mehr arbeiten und werden mehr geschlagen. Dies sind häufig auch die Kinder, die als bereits ältere Kinder von den Verwandten ins Heim gegeben werden oder weglaufen und auf der Straße aufgegriffen werden.

Es wundert daher wenig, wenn Kinder mit solchen Erlebnissen ihre eigene Adoption anders betrachten als solche, die als Baby adoptiert wurden. 63,4 Prozent der für den Bericht interviewten Kinder bestätigten, dass sie Gewalt an Kindern als Menschenrechtsverletzung ansehen, insbesondere im Bereich der sexuellen Gewalt.

"The study revealed that adults perceived violence against children as acts that inflicted injury or harm in an unacceptable manner or that transgressed the law. Children shared this perception, but added that violence was also a human rights issue. While the majority of adults considered sexual violence unacceptable under any circumstance, at the same time they were reluctant to consider female genital mutilation (FGM) and early marriage as unacceptable forms of violence. In contrast, children showed no tolerance for such harmful traditional practices. All forms of sexual violence were unacceptable to them, whether they are cultural or traditional. In the study, 48 percent and 38.7 percent of the children indicated that they personally know of cases of early marriage and FGM, respectively."

Aus der Perspektive älterer Adoptivkinder, insbesondere Mädchen, sind daher die in in diesem Blog diskutierten ethischen Fragen von Auslandsadoptionen eher in der Kategorie von Luxusproblemen liberaler Wohlstandsgesellschaften angesiedelt. Auch wenn auch sie an dem Trauma des Verlusts ihrer ersten Familie zu arbeiten haben, wissen sie zugleich, was sie durch die Adoption gewonnen haben. Das ist in der Regel ein Leben ohne Gewalt, ohne Armut und ohne Überlebensängste. Das ist kein Grund, sich nicht mehr mit den ethischen Fragen von Auslandsadoptionen zu beschäftigen, aber ein wichtiges Korrektiv in manchen erhitzten Debatten. 

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