Dienstag, 7. Juni 2011

Waisen 2.Klasse?

Sind nur Vollwaisen vollwertige Waisen? Ist darum die Adoption von Halbwaisen und Sozialwaisen’ gleich per se verdächtig? Manche Kommentare hier gehen in diese Richtung – und damit an einer schmerzlichen Realität vorbei.

Neugeborene Kinder, die – oft unter lebensgefährlichen Umständen – auf der Straße ausgesetzt gefunden werden, haben wahrscheinlich noch Mutter und vielleicht auch Vater, sind also begrifflich keine Vollwaisen, sondern verlassene Kinder. Diese Aussetzungen kommen häufiger vor, als manche wohl wahrhaben wollen. Und weil die Aussetzungen das Kind anonymisieren, kann ihnen auch das Umfeld von Verwandten und Nachbarn nicht mehr helfen – es ist ausgelöscht.

Äthiopien hat erst vor relativ kurzer Zeit die Adoptionsfreigabe zugelassen – auch um die Zahl der Säuglinsaussetzungen zu verringern. Man kann getrost davon ausgehen, dass die Verbreitung dieser Fälle dort wohlbekannt ist.

Ähnliches gilt für die Sozialwaisen’ – oder wie auch immer man sie bezeichnen möchte. Bei Sozialwaisen – das sagt schon der Begriff – ist das soziale Umfeld zerstört und nicht mehr in der Lage, dem Kind Halt zu geben. Diese Kinder sind häufig schwerer traumatisiert als jene, die den (erwiesenen) Tod ihrer Eltern zu verkraften haben; sie empfinden das Verlassenwerden oft lebenslang als persönliche Demütigung und sind in besonderem Maß auf stabile und verlässliche Lebensverhältnisse und Bezugspersonen angewiesen.

Gibt es im Heimatland keine geeigneten Personen und Strukturen, dann kann die Adoption in ein anderes Land diesen Kindern Halt und Familie geben – so das Haager Übereinkommen. Dass es in den Adoptionsverfahren Missbrauchsmöglichkeiten und Missbrauchsfälle gibt, war Grund dafür, diese Seite ins Netz zu stellen - und ist fast schon ein Gemeinplatz.

Es wäre fatal, wenn die Not der Kinder darüber in Vergessenheit gerät.

2 Kommentare:

  1. "Dass es in den Adoptionsverfahren Missbrauchsmöglichkeiten und Missbrauchsfälle gibt, war Grund dafür, diese Seite ins Netz zu stellen - und ist fast schon ein Gemeinplatz."

    Lieber yb, ich fürche, was den "Gemeinplatz" betrifft, so müssen Sie sich Widerspruch gefallen lassen. Fragen Sie nämlich nach Missbrauch und Korrption, so lauten die Antworten in der Regel:

    -Ja, den gibt es vielleicht, aber sicher nicht in unserem Fall!
    -Ja, sicher; aber doch nicht bei unserer Agentur!
    -Ja, aber sicher sind die Amerikaner schuld!

    Die Schwierigkeit mit den Halb- und Sozialwaisen im Zusammenhang mit Korruption scheint zu sein, dass hier kraft Status die Möglichkeiten zu Betrug und Fälschung in den persönlichen Angaben wesentlich höher und sind als in anderen Fällen, weil der Wahrheitsgehalt der Angaben oft verschwimmt und unklar wird. Deshalb haben auch die meisten dokumentierten Fälle von "Frauds" solche Hintergünde. Das ist von der Sache her eigentlich einleuchtend.

    Diese Sachlage zu überlagernd durch emotional aufgeladene Begriffe wie "Waisen zweiter Klasse", finde ich, mit Verlaub, tatsächlich einigermaßen polemisch.

    b. (von betyie), als anonym angemeldet, weil die Berechtigung nicht funktioniert hat.

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  2. Liebe B.,

    die Antwortenliste ließe sich wahrscheinlich noch verlängern - auf jeden Fall ist das ein Impuls, weiter (und vielleicht in einem eigenen Beitrag) über Selbstbeschwichtigungsstrategien nachzudenken.
    Manches dazu findet sich ja schon an verschiedenen Stellen auf dieser Seite - etwa die Frage nach der Übertragbarkeit der aus den USA berichteten Fälle. Oder wann und wo man einen Verdacht äußern soll.

    Es stimmt schon - 'Frauds' gehören nicht zum Allgemeinwissen. Und der Nachweis eines Vollwaisenstatus ist weniger manipulationsanfällig. Der Beitrag versucht, die (weitergehende) Suggestion einiger Kommentare hier zurückzuweisen, es gäbe eine Hierarchie zwischen den Waisen selbst. Außerdem endet die Überschrift in einem Fragezeichen.

    Wenn man gerade in nächster Nähe mit einem ausgesetzen Säugling konfrontiert worden ist, dann lädt man sich allerdings schon mal emotional auf - und merkt: Über den Diskussionen gerät die Not der Kinder selbst manchmal aus dem Blickfeld.

    Ich hoffe, die Sachlage wird nach wie vor durch den Kontext deutlich genug, in dem dieser Beitrag steht.

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